Ohne Angst zum Arzt

Nicht jede_r kann bei Beschwerden einfach zum Arzt gehen – auch hierzulande nicht. Das gilt ganz besonders für Menschen ohne Papiere. Dabei können schon kleine Schritte wie der „anonyme Krankenschein“ für ein Stück Normalität sorgen.

Von Christine Höpfner

Als im Juni 2014 der niedersächsische Integrationspreis vergeben wurde, waren unter den Preisträgern auch die Medizinische Flüchtlingsberatung in Hannover und die in Göttingen: Die beiden Nichtregierungsorganisationen (NGOs) gehören zu den MediNetzen oder MediBüros, die in vielen Städten Deutschlands meist auf ehrenamtlicher Basis anonym und kostenlos medizinische Hilfe für nicht krankenversicherte Migrant_innen vermitteln.

„Papierlose sind im Krankheitsfall ganz besonders auf Ärzte angewiesen, die sie umsonst behandeln“, sagt Maren Mylius, Ärztin in Weiterbildung Psychiatrie an einer Hannöverschen Klinik und ehrenamtliche Mitarbeiterin der Medizinischen Flüchtlingsberatung. „Rein formal hat man zwar auch ohne legalen Aufenthaltsstatus Anspruch auf medizinische Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz“, führt sie aus. „Doch Arztpraxen, Ambulanzen und Krankenhäuser müssen sich zur Kostenerstattung ans Sozialamt wenden, das die Patientendaten an die zuständige Ausländerbehörde übermitteln muss. Um nicht entdeckt zu werden und eine Abschiebung zu riskieren, wird die nötige medizinische Hilfe oft gar nicht oder viel zu spät gesucht.“

Die prekäre Lage der Papierlosen sind seit Jahren Maren Mylius‘ Thema. Schon als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Ethik an der Uni Erlangen/Nürnberg hat sie sich mit der Frage beschäftigt, wie man für diese Menschen eine angemessene Versorgung sicherstellen kann. Und wie Mylius bringen auch die anderen MediNetz-Helfer_innen – neben Ärzten auch Psychotherapeuten, Krankenpflegekräfte, Medizinstudierende und Dolmetscher – jede Menge berufliche Erfahrung in ihr Engagement ein.  

            Anonyme und kostenlose Behandlung im Modellversuch

Auf die gute örtliche Vernetzung dieser NGOs und deren qualifiziertes Personal setzte denn auch der Landtag Niedersachsens, als er Ende 2014 den Modellversuch „Anonymer Krankenschein“ beschloss. Vorausgegangen war ein Entschließungsantrag, in dem SPD und Grüne neben der Gesundheitskarte für Flüchtlinge im Asylverfahren auch den anonymen Krankenschein für Menschen ohne definierten Aufenthaltsstatus forderten. Dieser sollte, wie es in dem Antrag heißt, „in Kooperation mit der Kassenärztlichen Vereinigung und der Medizinischen Flüchtlingshilfe in Göttingen und Hannover“ eingeführt werden und „diesem Personenkreis die Inanspruchnahme ärztlicher Versorgung ermöglichen, ohne dabei negative Konsequenzen fürchten zu müssen“.

Der auf drei Jahre befristete Modellversuch startete im Dezember 2015. Dazu wurde in beiden Städten je eine „Anlauf- und Vergabestelle zur Vermittlung papierloser Menschen in medizinische Versorgung“ eingerichtet, mit je einer halben Personalstelle für die ärztliche Leitung.

In Hannover befindet sich die Vergabestelle im Freizeitheim Linden, das Integrations- und Bildungsarbeit leistet und sich als Ort multinationaler Begegnung versteht. Am 11. März 2016 wurde dort die Arbeit aufgenommen. Geöffnet ist montags, dienstags und freitags von 9 bis 11 und donnerstags von 13 bis 16 Uhr. Das Personal klärt das Gesundheitsproblem und die soziale Lage der Hilfesuchenden, händigt ihnen anschließend bei Bedarf den anonymen Krankenschein (AK) aus und vermittelt sie an Arztpraxen oder Krankenhäuser – und auf Wunsch auch an Stellen, die zum Aufenthaltsrecht beraten.

     „Mit dem anonymen Krankenschein können Papierlose zu jedem niedergelassenen Arzt gehen und sich kostenfrei behandeln lassen“, so Maren Mylius. „Die Behandlungskosten werden anonym über einen durch das Sozialministerium eingerichteten Fonds abgerechnet. Die Ärzte entgehen so dem Risiko, dass sie auf den Kosten sitzenbleiben, und die Klienten brauchen keine Angst zu haben, dass persönliche Daten an Behörden weitergegeben werden.“

Für das Projekt hat man gezielt geworben, zum Beispiel in Beratungsstellen für Migrant_innen, in Sammelunterkünften oder bei Hilfsorganisationen für Menschen ohne Papiere. Die Klientel besteht aus Geflüchteten, die keinen Asylantrag gestellt haben, weil man ihn ohnehin nicht bewilligen würde, aus Menschen, deren regulärer Aufenthaltstitel ausgelaufen ist oder die mit einem befristeten Visum eingereist und geblieben sind.

            „Bei den meisten Patienten handelt es sich um Kinder“

„Von März bis Ende Mai wurden in Hannover 50 Beratungen durchgeführt und 40 anonyme Krankenscheine ausgegeben: an schwangere Frauen, Patienten mit Schmerzen, für Kinder mit Ernährungsproblemen – an Menschen mit verschiedensten Beschwerden“, erzählt Maren Mylius. „Die Altersspanne reicht von Säuglingen bis hin zu über 50-Jährigen, bei den meisten Patienten handelt es sich aber um Kinder.“

Pro Jahr erhält das Modellprojekt 500.000 Euro vom Land Niedersachsen für Personal- und Sachkosten und die medizinische Versorgung. Jeder Standort muss also mit 250.000 Euro jährlich auskommen – da heißt es gut haushalten, zumal die Zahl der Hilfesuchenden jetzt allmählich zunimmt. „Der größte Teil des Budgets fließt in die ärztliche Versorgung“, betont Maren Mylius. „Das Geld ist knapp bemessen, aber wir hoffen, dass wir möglichst vielen Menschen eine Behandlung ermöglichen können.“

Mit dem AK hat man Anspruch auf ärztliche Leistungen, wie sie in § 4 AsylbLG vorgesehen sind. „Das heißt Behandlung bei akuten, behandlungsbedürftigen Erkrankungen und bei Schmerzen, wozu auch zahnärztliche Leistungen wie auch die Vor- und Nachsorge bei Schwangerschaft zählen“, erläutert Mylius. „Langfristige Therapien, wie sie bei chronischen Krankheiten wie etwa einer HIV-Infektion notwendig sind, sind dort aber nicht genannt. Ob nun die HIV-Infektion eines Asylsuchenden behandlungsbedürftig ist und dann auch auf Dauer therapiert werden muss, legen die Sozialämter daher recht unterschiedlich aus.“

Bei HIV-Fällen im Modellprojekt entscheidet ein Beirat aus Medizinethiker_innen, Ärzt_innen, Vertreter_innen der Vertragspartner und des öffentlichen Gesundheitsdienstes, ob eine antiretrovirale Therapie angezeigt ist. „Bis dato hatten wir aber nur wenige HIV-Patienten – das Projekt läuft ja erst seit März 2016“, sagt Maren Mylius. „Mit HIV und anderen chronischen Erkrankungen gibt es im Modellprojekt noch kaum Erfahrungen. In einigen Monaten wird man besser beurteilen können, was gut läuft und wo es Probleme gibt.“

            Der AK ist nicht für alle, die in bräuchten, zugänglich

Dass das Projekt allein auf Papierlose zielt, erachtet die Ärztin zwar als richtig. Trotzdem bedauert sie, dass andere, die ebenso darauf angewiesen wären, davon nicht profitieren können. So würden immer mehr Klient_innen in die Anlaufstelle kommen, die sich zwar rechtmäßig in Deutschland aufhalten, aber nicht krankenversichert sind, wie beispielsweise Migrant_innen aus osteuropäischen EU-Ländern wie Rumänien oder Bulgarien, für deren medizinische Versorgung es keinen Kostenträger gibt. „Wir müssen dann schauen, zu welcher anderen Hilfsorganisation wir sie schicken können.“

Ausgeschlossen sind ebenso Asylsuchende. Laut Gesetz steht ihnen zwar eine medizinische Basisversorgung zu. Doch angesichts überfüllter Erstaufnahme-Einrichtungen sind die Behörden überfordert und kommen mit der Bearbeitung der Asylgesuche und der Ausgabe von Behandlungsscheinen kaum hinterher. Ohne diesen Schein ist aber kein Arztbesuch möglich; auch die Kommunen kommen für die Kosten nicht auf.

Auch wenn das Projekt nicht alle Probleme lösen kann: Maren Mylius freut sich trotzdem darüber, handelt es sich beim anonymen Krankenschein doch ein ureigenes Anliegen der MediNetze, papierlosen Menschen medizinische Hilfe bei Ärzt_innen ihrer Wahl zu ermöglichen. „Wir sehen darin zumindest einen Schritt, dem Recht auf gesundheitliche Versorgung mehr Geltung zu verschaffen.“

            Hoffnung auf eine landesweite Übernahme des Modells

Nach langjährigen politischen Kämpfen galt der AK schon fast als unerreichbar. Ähnliche Modelle konnten bisher nur in Hamburg und Düsseldorf durchgesetzt werden: Dort wird in sogenannten Clearingstellen geklärt wird, ob die Klient_innen in die Regelversorgungssysteme integriert werden können; wo dies nicht möglich ist, trägt ein Notfallfonds die Kosten für die ärztliche Behandlung. Ob der anonyme Krankenschein eine Zukunft hat, wird von der Evaluation des Modellprojekt am Ende seiner Laufzeit abhängen. Maren Mylius hofft deshalb, dass die rot-grüne Landesregierung bei der nächsten Landtagswahl im Jahr 2018 im Amt bestätigt wird: „Dann sind die Chancen größer, dass er landesweit übernommen wird.“

Göttingen und Hannover zeigen, dass sich der AK für Papierlose trotz aller formalen und gesetzlichen Hürden in die Praxis umsetzen lässt. In Bremen, Hamburg, Berlin und Schleswig-Holstein wiederum erhalten Asylsuchende eine Gesundheitskarte, mit der sie, ohne Umweg über das Sozialamt, direkt zu einem Arzt ihrer Wahl gehen können – auch das sorgt für ein Stück Normalität. In den Flächenstaaten tut man sich mit der Übernahme solcher Modelle allerdings  schwer, und bundesweite Lösungen wie etwa die Aufhebung der Einschränkungen des AsylbLG oder die Streichung von § 87 Aufenthaltsgesetz sind derzeit nicht in Sicht.

Dass das Problem drängt und entschlossenes politisches Handeln gefordert ist, darauf will die Deutsche AIDS-Hilfe gemeinsam mit den Ärzten der Welt, mit MediNetz Berlin und dem Aktionsbündnis gegen Aids am 18. Juli mit einer Aktion vor dem Bundesministerium für Gesundheit aufmerksam machen – zeitgleich zur Internationalen Aids-Konferenz, die vom 18. bis 22. Juli in Durban/Südafrika unter dem Motto „Access Equity rights now“ (gleiches Zugangsrecht für alle) stattfinden wird.